Intelligente Horror-Allegorie

• USA 2019
• Regie: Jordan Peele
• Laufzeit: 117 Minuten
Handlung: 1986: Die kleine Ada besucht mit ihren Eltern einen Vergnügungspark und läuft unbeaufsichtigt in ein Spiegellabyrinth. Dort trifft sie auf ein Mädchen, das hier komplett gleicht. Als sie zu ihren Eltern zurückkehrt, spricht sie kein Wort mehr. Etwa dreißig Jahre später steht Ada fest im Leben. Mit ihrem Mann Gabe und ihren Kindern Zora und Jason fährt sie in das Ferienhaus, in dem sie als Kind die Ferien verbracht hat. An die ungemütlichen Zeiten der Kindheit erinnert, erzählt Ada ihrem Mann von ihren verstörenden Erlebnissen von damals. Dann aber klingelt es an der Tür: Die Familie erhält höchst ungewöhnlichen Besuch.
Besprechung: Ich mag diesen Film zugleich mehr und weniger als Peeles Debüt „Get Out“. Das
Budget ist deutlich größer, und das gilt auch für die inszenatorischen Ambitionen. Der Kunstwillen von „Wir“ zeigt sich gleich im originellen Vorspann, dem eine sensationelle
Eröffnungssequenz in einem Vergnügungspark am Strand von Santa Cruz folgt. Die Lichtgestaltung ist markanter als im Vorgänger (sowohl high key als auch low key), der Score stammt wieder von
Michael Abels und ergibt zusammen mit Soundtrack und Sounddesign ein starkes akustisches Erlebnis. Auch sind die Figuren interessant und gut gespielt (vor allem Lupita N’yongo
als erwachsene Ada ist toll), die Dialoge intelligent und die Geschichte in ihren Horrormotiven und in ihrem Ablauf meist weder abgegriffen noch vorhersehbar.
Nach einem langsamen ersten Akt, der die Figuren etabliert und eine bedrohliche Atmosphäre aufbaut, folgt ein zweiter voller Terror und Gewalt. Der letzte Akt unterstreicht dann die
High-Concept-Ambitionen und macht die Geschichte noch komplexer und origineller als die von „Get out“, zugleich aber auch weniger geradlinig und stimmig. Wo „Get Out“ womöglich zu simpel
und klassisch endet, lässt einen „Wir“ eher im Regen stehen, und das nicht unbedingt auf die gute Art.
Auch ist das Pacing des fast zwei Stunden langen Film etwas holprig und die Tonalität hin und wieder unausgegoren, wenn die ernsthaften und dramatischen Ansätze des Films mit
grobschlächtigeren und humorvollen Tonlagen durchkreuzt werden. Auch riskiert der Mittelteil, dass man den Kopf schüttelt oder sich ein paar Fragen stellt. Was mich wirklich gestört hat,
ist ein – aus meiner Sicht – erzählerischer Bruch. Bis zur Mitte des Films lässt sich „Wir“ als aufwühlende Allegorie darauf verstehen, was ständige Diskriminierung und negative
Zuschreibungen mit dem Unterbewusstsein der schwarzen Bevölkerung in den USA angerichtet haben. Eine Idee, die mir so noch nie gekommen war und die mich tagelang beschäftigt hat. Der Film schafft
es, für dieses eher abstrakt klingende Phänomen eine eindrucksvolle Ausdrucksform zu finden. Aber er lässt es dann dabei nicht bewenden, sondern weitet seine Vision aus, wodurch sie in
meinen Augen verwässert wird und den Film schließlich weniger fokussiert und eindringlich erscheinen lässt. Das ist wirklich schade, denn Jordan Peele hat die Zutaten für einen modernen
Klassiker in der Hand, kann sie aber nicht so nutzen, dass für mich „Wir“ über die volle Distanz funktioniert. Vielleicht ist das aber auch mehr mein Problem als das des Films.
Letztlich ist aber auch „Wir“ ein wirklich sehenswerter, intelligenter Horrorfilm, bei dem es viel zu entdecken, interpretieren und diskutieren gibt. Und der toller Weise auch
gut zu gucken ist, wenn man an intellektueller Durchdringung gar nicht besonders interessiert ist, sondern einfach nur spannende und manchmal unheimliche Unterhaltung sucht.
Trivia: Wie „Get Out“ war der Film ein riesiger Erfolg. „Wir“ spielte bei einem Budget von 20 Millionen Dollar über 250 Millionen ein.
Jordan Peele gab seinen Darsteller*innen eine Liste von Filmen, die sie gucken sollten, um sich auf das Projekt einzuschwingen und dafür „eine gemeinsame Sprache“ zu haben. In
meinen Augen sind in dieser Liste nur Treffer: „Die Vögel“ (1963), „Der weiße Hai“ (1975), „Shining“ (1980), „Schatten der Vergangenheit“ (1991), „Funny Games“ (1997), „The Sixth Sense“ (1999),
„A Tale of Two Sisters“ (2003), „Martyrs“ (2008), „So finster die Nacht“ (2008), „It Follows“ (2014), „Der Babadook“ (2014).
Die weißen Kaninchen, die Spiegelhalle und die roten Overalls sind Referenzen an „Alice im Wunderland“, wobei die Farbe der Overalls die „Rote Königin“ repräsentiert.
Der Bibelvers Jeremia 11:11, auf den im Film mehrmals Bezug genommen wird, lautet so: „Darum - so spricht der Herr: Jetzt bringe ich Unheil über sie, dem sie nicht entgehen
können. Schreien sie dann zu mir, so werde ich nicht auf sie hören.“
Der Santa Cruz Beach Boardwalk wurde schon als Setting für mehrere Sequenzen von „The Lost Boys“ (1987) genutzt. Im Film gibt es sogar einen kleinen Hinweis darauf, wenn Adas Mutter beim Besuch des Vergnügungsparks im Jahr 1986 zu ihr sagt: „Du weißt ja, sie drehen da drüben beim Karussell einen Film.“
IMDB: 6.8 von 10
Letterboxd-Rating: 3.6 von 5
Hopsy-Rating: 3.5 von 5
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