Ambitionierter kleiner Geisterfilm

• Vereinigtes Königreich 2021
• Regie: Ruth Platt
• Laufzeit: 97 Minuten
Handlung: Die zehnjährige Leah ist ziemlich allein: Ihr Vater kümmert sich als Pfarrer um alle Hilfsbedürftigen, die an die Tür des Vikariats klopfen, hat aber wenig Zeit für seine Tochter. Die Mutter wirkt deprimiert, distanziert und streng, und auch die ältere Schwester ist nicht gerade freundlich. Da trifft es sich gut, dass endlich eine gleichaltrige Freundin in Leahs Leben auftaucht. Etwas sonderbar ist allerdings, dass sie nachts ans Fenster klopft und in Rätseln über Dinge spricht, von denen der Rest der Familie nichts wissen willen.
Besprechung: Schon in den ersten Minuten wird klar, dass „Martyrs Lane“ kein Hollywood-Film und keine Cash-Cow ist. Der britische
Independent-Film zeichnet sich durch eine ruhige, eigenwillige Erzählweise und eine Kameraarbeit aus, die Neues versucht, anstatt bewährte Techniken abzuspulen. Wir bekommen die gesamte
Geschichte aus der Perspektive der zehnjährigen Leah mit, was dazu führt, dass die Welt der Erwachsenen manchmal splitterhaft und unverständlich wirkt. Überraschende Schnitte verstärken das
Gefühl leichter Desorientierung und kindlicher Verunsicherung, wobei sich Leah (stark gespielt von Kiera Thompson) mit angenehmer und glaubhafter Würde durch ihren von Einsamkeit und Unwissen
geprägten Alltag bewegt. Sie präsentiert die Situation der Kindheit eindrücklich: offene Sinne für alles um einen herum, aber zugleich fehlen immer wieder Informationen, da die Erwachsenen (oft
aus guten Gründen) einem Kind nicht alles vermitteln, auch gar nicht vermitteln können, was auf sie einwirkt und sie deshalb womöglich wütend, abwesend oder gekünstelt reagieren lässt. Die
Ernsthaftigkeit, mit der die kleine Leah versucht, ihre Umwelt zu begreifen, ist eine Stärke des Films. Eine andere ist ihre Interaktion mit der geisterhaften Freundin (Sienna Sayer). Natürlich
ist das sonderbare Kind mit den angeklebten, schief sitzenden Engelsflügeln, nicht das erste Geisterkind, das nachts bei einem einsamen Mädchen anklopft, aber sie macht es wirklich mit Style.
Allein, dass die Vorhänge das Fenster zum Garten hin wie eine Bühne erscheinen lassen, auf der der kleine Engel dann auftritt, ist stark. Und die Chemie zwischen Kiera Thompson und Sienna Sayer
einfach großartig. Wenn die beiden Mädchen „Zwei Wahrheiten, eine Lüge“ auf Leahs Bett spielen, spürt man die Freude an Verbindung genauso, wie die Unsicherheit, ob das Gegenüber es gut mit einem
meint.
Die andere Charaktere sind im Vergleich dazu etwas unterbeleuchtet: Die ältere Schwester ist eine junge Frau kurz vorm Wechsel aufs College, die ihre Unsicherheit, Trauer und Wut hinter einer
aggressiven Fassade versteckt. Der Vater ist ein freundlicher Pfarrer, der so tut, als sei alles in bester Ordnung und die Mutter (gespielt von Denise Gough) wirkt ernst, in sich verschlossen und
hat etwas an sich, dass nicht nur Leah verunsichert und ängstigt. Leider fand ich die Mutterfigur zwar glaubwürdig, aber auch – auf eine uninteressante Weise – unsympathisch. Ihr Schmerz geht mir
nicht nah. Ich dachte beim Gucken öfter „Ich mag solche Leute einfach nicht“.
Als Horrorfilm ist „Martyrs Lane“ sehr zurückhaltend. Es gibt nur wenige Szenen, die eindeutig gruselig oder schockierend sind. Diese sind aber meistens stark in Szene gesetzt und könnten auch
abgebrühte Gucker*innen erreichen. Alles in allem ist der Film aber eher ein Mystery-Drama, in dem ein junges Mädchen mit Hilfe einer unheimlichen Freundin einem tragischen Familiengeheimnis auf
die Spur kommt. Beim ersten Gucken habe ich nicht alles verstanden, denn „Martyrs Lane“ erfordert Aufmerksamkeit und erzählt seine Geschichte durch Bruchstücke, die man selbst zusammenfügen muss.
Das erhöht Anspruch und Reiz, sorgt aber auch dafür, dass der Film sicher kein Millionenpublikum auf der Jagd nach saftigem Gruselgewitter ansprechen wird.
Pfarrhaus-Setting, Kameraarbeit und Bildsprache haben mir gut gefallen, die hypnotisch gemeinte Musik weniger. Das ist in meinen Ohren der typische wabernde Arthouse-/Indiefilm-Klangteppich, der
bedeutungsschwanger und speziell daherkommen will, mich aber eher nervt. Auch unterstützt der Score leider meist nicht den Grusel, den der Film in manchen Sequenzen durchaus verbreiten
kann.
In meinen Augen ist „Martyrs Lane“ ein intelligenter und auch durchaus anspruchsvoller bis sperriger Film, der mit starken Kinderdarstellerinnen und einfühlsamen Einblicken in das Wesen der
Kindheit beeindruckt, aber leider in Bezug auf die Erwachsenen und seine Gesamtwirkung nicht rundum überzeugen kann. Inspirierend und mit ästhetischem und narrativem Gespür gestaltet ist der Film
aber auf jeden Fall. Auch nicht Horrorfilmfans können hier mal einen Blick riskieren.
Trivia:„Martyrs Lane“ ist der dritte Spielfilm von Ruth Platt (und basiert auf einem vorher von Platt gedrehten Kurzfilm). Vorher drehte
die britische Regisseurin und Schauspielerin den Horrorfilm „The Lesson“ (2015) und die Tragikomödie „The Black Forest“ (2019). Als Schauspielerin wirkte Platt in dem historischen Abenteuerfilm
„The Prince and the Pauper“ (2000) und zwei Jahre später in dem Drama „Der Pianist“ von Roman Polanski mit. Ein Interview mit der Regisseurin über ihren Geisterfilm findet sich hier.
Gedreht wurde der Film mit digitalen Arri Alexa Kameras. Für die Cinematographie war Márk Győri zuständig, fürs Produktions-Design Virginia Godwin.
Der Film hat an den Kinokassen weltweit nur 230.000 Dollar eingespielt, hat aber mehrheitlich gute bis sehr gute Kritiken erhalten.
IMDB: 5.5 von 10
Letterboxd-Rating: 2.8 von 5
Hopsy-Rating: 3 von 5
Kommentar schreiben