Satirisch, ungemütlich, böse

• Dänemark, Niederlande 2022
• Regie: Christian Tafdrup
• Laufzeit: 97 Minuten
Handlung: Ein dänisches Paar mit Tochter lernt im Italienurlaub ein holländisches Paar mit Sohn kennen. Man versteht sich gut. Die forschen Holländer laden die höflichen Dänen ein, sie nach dem Urlaub mal bei sich zu Hause zu besuchen. Wer kann da schon nein sagen? Und was soll da schon schiefgehen?
Besprechung: Wer sich einen Mix aus „The Square“ (Ruben Östlund), „Funny Games“ (Michael Haneke) und „Coming Home in the Dark“ (James Ashcroft)
vorstellen kann, bekommt eine Ahnung davon, was für eine Art Film „Speak No Evil“ ist. In erster Linie ist er ungemütlich. In zweiter Instanz kann er auch wütend machen, weil
Bjørn und Louise aus Dänemark manchmal so harmonieliebend und passiv sind, dass man schreien möchte. Ja, ich wollte beim Gucken manchmal in die Leinwand springen, um da einzugreifen, wo das
dänische Paar nur betreten lächelnd dasteht. Stück für Stück und durch seine Frau Karin in keiner Weise gehindert übertritt Patrick die Grenzen von Bjørn, Louise und deren jugendlicher
Tochter Agnes. Mal wird missachtet, dass Louise Vegetarierin ist, mal mischen sich die Gastgeber in die Kindererziehung der Gäste ein, während sie ihren eigenen Sohn äußerst fragwürdig
behandeln. Und überhaupt ist dieser Sohn Abel mit seiner verkürzten Zunge eine eher bedrückende Erscheinung.
Die recht klare Botschaft des Films macht ihn gleichermaßen vorhersehbar wie nervenzerrend. Dabei ist aber auch wahrscheinlich weniger wichtig, was in „Speak No Evil“ passiert,
sondern wie es passiert, und in welchen darstellerischen und inszenatorischen Nuancen die Grenzüberschreitungen präsentiert werden. Hier liefert der auch optisch ansprechende Film voll ab. Die
Schauspieler*innen sind gut. Vor allem Fedja van Huêt als manipulativer Gastgeber bleibt in Erinnerung, aber Morten Burian als aggressionsgehemmter Bjørn steht ihm kaum nach.
Auch Sidsel Siem Koch als Louise und Karina Smulders als Karin haben mich überzeugt, auch wenn sie meiner Ansicht nach weniger Charisma haben als ihre Männer, die auch mehr im Fokus stehen.
Glücklicherweise sind nicht nur die Schauspieler*innen bis hin zu den Kinderrollen stark besetzt, sondern auch die Figuren gut gezeichnet und die Dialoge intelligent geschrieben.
Man spürt die boshafte Freude, die die Macher gehabt haben müssen. Großartig ist auch, wie sich nach und nach das blanke Entsetzen in den Film schleicht, und sich dabei gleichzeitig doch schon
frühzeitig ankündigt.
Dass der Film gerade im letzten Drittel mehr Wert auf seine Botschaft als auf psychologische Plausibilität legt, gehört zum Programm. Einem Programm, das den Zuschauer bewusst
quält und in den Wahnsinn treibt. Wer es bis jetzt noch nicht herausgelesen hat: „Speak No Evil“ ist sicher kein Film für jeden. Aber ganz sicher ein verdammt wirkungsvoller
Low-Budget-Film, der als dänisch-holländischer Horrorthriller international beeindruckt.
Warn-Hinweis: (Psychische) Gewalt gegen Kinder.
Trivia: Regisseur Tafdrup will die Idee zu dem Film während eines Toskana-Urlaubs bekommen haben. Dort lernte er mit seiner Frau
ein niederländisches Paar kennen, das nett, aber auch etwas sonderbar wirkte und nach den Ferien zu sich nach Hause einlud. Die Tafdrups nahmen die Einladung nicht an, aber Christian Tafdrup
dachte darüber nach, wie der Besuch wohl verlaufen wäre. Aus diesen Überlegungen schuf er mit seinem Bruder Mads das Drehbuch zu „Speak No Evil“.
Fedja van Huêt und Karina Smulders, die hier das niederländische Paar spielen, sind auch abseits ihrer Filmrolle miteinander verheiratet.
Weil der Film während der Covid-Pandemie gedreht wurde, mussten die Dreharbeiten viermal unterbrochen werden. So verteilten sich schließlich sieben Wochen reine Drehzeit auf
einen Zeitraum von einem Jahr.
Das verschmierte Bild, das während des Abspanns zu sehen ist, erinnert an „Der gefallene Engel“ von Alexandre Cabanel (1823 – 1889).
IMDB: 6.6 von 10
Letterboxd-Rating: 3.4 von 5
Hopsy-Rating: 4 von 5
// HOPSYS GEDANKEN
Nicht ohne Grund stellt der Film die auf Höflichkeit getrimmten Dänen so zurückhaltend und wehrlos dar: „Speak No Evil“ macht sich nicht in erster Linie über die wohlerzogene Mittelschicht mit
ihrer Etikette und ihren moralistischen Skrupeln lustig, sondern über die Wehrlosigkeit angesichts von Aggressoren, die dabei kultiviert wird. Und die womöglich nicht allein die
Mittelschicht betrifft. Natürlich ist es Zufall, dass der Film im gleichen Jahr in die Kinos gekommen ist, in dem die russische Armee in der Ukraine einmarschiert ist, aber die verunsicherten
Reaktionen des Westens legen nahe, dass Regisseur Tafdrup, der mit seinem Bruder Mads auch das Drehbuch zu „Speak No Evil“ geschrieben hat, ein tieferliegendes Problem aufgespürt hat:
Wann artet Zivilisiertheit in Selbstverleugnung aus? Wann wird Toleranz zur Gefahr? Und wer beschützt eigentlich eine pazifistische Gesellschaft? Ein Unterthema dieses Problems
ist „Männlichkeit“. Plakativ gefragt: Wenn niemand toxisch männlich ist, wer setzt den toxischen Männern eigentlich noch was entgegen?
Diese Fragen stellt auch das US-Remake aus dem Jahr 2024. Diese Neuverfilmung mit James McAvoy („Split“) als psychopathischem Gastgeber ist wirklich gut gelungen. Weniger, weil
man ihr das höhere Budget – fünfzehn statt knapp drei Millionen – ansieht, und mehr, weil James Watkins („Eden Lake“) die Qualitäten des Originals verstanden hat, und auf eine
trocken inszenierte, gut getimte Eskalationsspirale mit reichlich Raum für unangenehme Gefühle gesetzt. Die starken Darsteller*innen und das solide Drehbuch versuchen sogar, ein paar
psychologisch weniger stimmige Momente des Originals zu verbessern und gleichzeitig etwas plakativer zu arbeiten, damit die Thrillerelemente früher zum Zuge kommen. Auch kann das Remake
durch ein paar Änderungen der Story auch die Zuschauer*innen überraschen, die den ersten „Speak No Evil“ bereits gesehen haben. Weitere Unterschiede sind: In der Neuverfilmung laden
Briten Amerikaner ein, nicht Holländer Dänen. Der männliche Gastgeber agiert früh offensiver und auffälliger. Auch wird keine eigene Filmmusik eingesetzt. Und das Anwesen der Gastgeber ist viel
größer, eindrucksvoller und abgelegener, während die Unterkunft im Original realistischer und bedrückender wirkt. Vor allem aber ist das Ende der Neuverfilmung anders und hat
eine andere Wirkung.
Das Original bleibt in meinen Augen der bessere Film, weil er mehr Sympathien für die friedliebende männliche Hauptfigur zu erzeugen versteht und schon früh durch kleine
Verfremdungseffekte eine fast surreal bedrohliche Atmosphäre schafft, ohne dabei die Gastgeber zu irre wirken zu lassen. Auch ist das Ende in meinen Augen das bessere. Das handwerklich
mindestens gleich starke Remake wirkt dagegen konventioneller, ist aber auf jeden Fall im letzten Akt sehr spannend.
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