Erwachsenwerden als feministischer Horrorfilm

• Belgien, Frankreich, USA 2016
• Regie: Julia Ducournau
• Laufzeit: 99 Minuten
Handlung: Justine stammt aus einer Familie von Tierärzten, die sich strikt vegetarisch ernähren. Bereits mit 16 Jahren beginnt die Musterschülerin ihr Studium der Veterinärmedizin und zieht auf den gleichen Campus wie ihre ältere Schwester. Die krassen Aufnahmerituale der Universität lässt die zartfühlende Justine widerwillig über sich ergehen. Unter dem Druck ihrer Schwester isst sie zum ersten Mal in ihrem Leben rohes Fleisch. Die Folgen sind gravierend. Denn nun bricht sich etwas in der jungen Frau Bahn, was mit ihrem bisherigen Selbstbild nicht zu vereinen ist.
Besprechung: Das Langfilm-Debüt von Julia Ducournau ist beeindruckend. „Raw“ hat nicht nur bereits eine eigene Handschrift, sondern ist
stilsicher und aufregend inszeniert. Schon die Totalen zu Beginn erzeugen eine starke Atmosphäre und gehören zu einer Anfangssequenz, die auf unkonventionelle Weise verstört. Auch in den
folgenden 90 Minuten folgen etliche intensive, toll ausgeleuchtete Sequenzen, die Lust an der Provokation zeigen. Dabei beweist die 1983 in Paris geborene Regisseurin obendrerin
ein tolles Gespür bei der Auswahl der Darstellerinnen und der Musik für ihren wilden Film.
Dramaturgisch ist „Raw“ allerdings eher interessant als spannend. Was sich zu einem essentiellen Konflikt der jungen Hauptfigur hätte entwickeln können, biegt in der zweiten
Filmhälfte in eine andere Richtung. Das ist sicher gewollt und erhöht durch die Ambivalenz gegenüber der „Erwachsenenwelt“ das diskursive Potenzial von „Raw“. Es mindert aber das atemlose
Mitfiebern mit der eigentlich sehr sympathischen Justine. Anfangs sieht es nämlich danach aus, dass sie nicht bereit ist, ihre Empathie und Individualität den bescheuerten
Aufnahmeritualen der Fakultät zu unterwerfen. Anders gesagt: Es geht um die Initiation ins Erwachsenensein innerhalb eines kaltschnäuzigen patriarchalen Systems. Justines
Widerstand kommt, wie leider so oft, die Sexualität dazwischen. Genauer gesagt: die Fleischeslust.
Der Film greift, wie es bei ambitionierten Debüts vorkommen kann, nicht gerade wenige Themen auf, die aber in meinen Augen gut zusammengehen und sich zu einer originellen
Geschichte über eine junge Frau verbinden, die gleichzeitig Opfer der Verhältnisse wird als auch gerade in diesen Verhältnissen ihre raubtierhafte Natur entdeckt. Ist es eine Zurichtung
oder eine Selbstermächtigung, die wir hier erleben? Egal, wie man den komplexen Film interpretieren will: Garance Marillier ist als Justine eine Wucht. Ihr facettenreiches Spiel zwischen
kluger Unschuld, femme fatale und privilegiertem Feingeist trägt den Film auch in den dramaturgisch schwächeren Momenten. Auch ihre Schwester Alexia ist eine etwas interessanter
geschriebene und von Ella Rumpf gut gespielte Figur. Die anderen Charaktere in diesem Body-Horror-Coming-of-Age-Drama sind dagegen eher eindimensional, erfüllen aber genau ihren
Zweck. Dabei wird weder eine realistische noch eine auch nur ansatzweise liebenswerte Studentenschaft gezeigt. Vielmehr verdichtet der Film seine Gesellschaftskritik im toll
gewählten Setting einer veterinärmedizinischen Fakultät. Vor allem die Szenen, in denen Tiere vorkommen, sind gleichzeitig abstoßend und ästhetisch faszinierend. Sie bebildern
eindrucksvoll Fragen, die der Film nach Machtverhältnissen und unserem Umgang mit Tieren und unserer eigenen tierischen Natur stellt. Wobei Unterdrückung natürlich auch immer die Gegenseite nach
sich zieht: also den kaum zu kontrollierenden Ausbruch des Unerwünschten. Das gilt auch in Bezug auf weibliche Sexualität, die in „Raw“ auch eine komplexe Schwestern-Rivalität
vertieft.
Kurz: „Raw“ ist kein komplett runder Film, aber ein intensives und filmisch enorm versiertes Debüt, das auch bei Horrorveteranen für hochgezogene Augenbrauen und Gesprächsstoff
sorgt.
Trivia: Beim Toronto-Film-Festival 2016 fielen einige Besucher bei der Vorführung von Raw in Ohnmacht, manchen wurde
einfach nur übel.
Der Name Justine könnte eine Referenz auf den gleichnamigen Roman des Marquis de Sade sein. Der vollständige Titel dieses brachialen Werkes lautet auf Deutsch „Justine oder vom
Missgeschick“ der Tugend. Das Buch zeigt eine junge unschuldige Frau, die in einer von reichen und (macht)geilen Männern dominierten Welt durch ihr tugendhaftes Verhalten nur immer schlimmeren
Vergewaltigungen und Foltern ausgesetzt wird.
Regisseurin Ducournau wollte, dass Hauptdarstellerin Marillier an ihrer Körperhaltung arbeitet. Vergleicht man Mimik, Gestik und Posen von Justine am Anfang des Films mit denen
am Ende, bemerkt man einen drastischen Wandel.
IMDB: 6.9 von 10
Letterboxd-Rating: 3.7 von 5
Hopsy-Rating: 4 von 5
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